Wie kommt es, dass Sie als ausgebildeter Molekularbiologe zum Wissenschaftsfotografen mutiertet sind?
Martin Oeggerli: Eigentlich war es ein Zufall. Als ich noch in der Krebsforschung arbeitete, kam jemand auf mich zu, auf der Suche nach kolorierten Raster-Elektronenmikroskop-Bildern für einen Jahresbericht. Dieser Auftrag zog mich von der ersten Sekunde an in den Bann. Es tat sich ein neues Feld auf, in dem ich alle meine Fähigkeiten und Interessen ausleben konnte. Was als Hobby und aus purem Spass anfing, ist vor einigen Jahren zu meinem Beruf geworden: Heute bin ich vollzeitlich als Astronaut im mikroskopisch Kleinen unterwegs – ein Micronaut eben.
Ohne das Raster-Elektronenmikroskop (REM) gäbe es keine Micronaut-Bilder. Wie müssen wir uns dieses Instrument vorstellen, das Einblick in Kleinstwelten gibt?
Es ist ein ganz empfindliches Gerät mit einem stattlichen Gewicht von ungefähr einer Tonne, das in einem unterirdischen Raum der Universität Basel steht. Dabei handelt es sich um ein Tastinstrument; der Elektronenstrahl rastert alles ab und zeigt die Topografie eines Objekts mit allen erdenklichen Details. Zu sehen sind äusserst präzise Strukturen, jedoch keine Farben. Diese füge ich in einem weiteren Schritt hinzu. Mit der Kolorierung mittels Bildbearbeitungsprogramm kann ich Akzente setzen und das Auge der Betrachter gezielt lenken.
Krebszellen, Bakterien, Mikroben – in Ihren Bildern werden Sie zu Eyecatchern. Wie gelingt es, Dinge, die von blossem Auge nicht erfassbar sind, zu ästhetisch attraktiven Objekten aufzubereiten und Menschen zum Staunen zu bringen?
Mit den mehr als zehntausendfachen Vergrösserungen, wie sie das REM ermöglicht, tauche ich in eine komplett fremde Welt ein. Eine Blattoberfläche wird zum botanischen Garten, durch den ich mich bewegen kann. Diesen Mikrokosmos bereite ich fürs menschliche Auge auf. Dank der nachträglichen Bildbearbeitung und dem gezielten Einsatz von Farben beginnt sich das breite Publikum plötzlich für Dinge zu interessieren, die ansonsten schwer zu fassen sind. Eine wunderbare Chance, um mit solch optischen Inputs Forschungsthemen einem breiten Publikum näherzubringen und Brücken zur Wissenschaft zu bauen.
Ihre Bilder von Milben sind mit Preisen bedacht worden und haben es in renommierte Zeitschriften geschafft.
Die Milben auf meinen Bildern sehen nicht so aus, wie sie sich die meisten Menschen vorstellen. Fakt ist: Es existieren wohl mehr als eine Million Milbenarten auf der Welt. Wir nehmen aber nur jene wahr, die Schäden hinterlassen, uns beissen oder die Zimmerpflanzen ruinieren. Doch es gibt auch Milben, die das Laub im Herbst zersetzen und dafür sorgen, dass die zyklischen Prozesse in der Natur ihren Lauf nehmen. Für diese Vielfalt will ich ein Bewusstsein schaffen.
Wie wichtig ist dieser Aspekt der Aufklärung und Sensibilisierung in Ihrer Arbeit?
Ich möchte den Menschen zeigen, was alles da ist. So sind zum Beispiel im menschlichen Mikrobiom hunderttausende Bakterienarten zu finden, die für die Gesundheit eine ganz zentrale Rolle spielen. Die meisten Menschen sind sich nicht bewusst, dass in uns rund 1,5 Kilogramm Bakterien aktiv sind. Ohne sie könnten wir nicht leben. Das Problem ist: Solche Dinge sind so klein, dass wir sie nicht sehen. Und was wir nicht sehen, bleibt uns fremd und macht Angst. Wir nehmen Bakterien meist erst wahr, wenn sie Probleme bereiten. Mit meiner Arbeit möchte ich den Menschen die Angst vor dem Unbekannten, dem winzig Kleinen nehmen. Unter dem REM glänzt zum Beispiel das Mikrobiom, wie es in der menschlichen Ausscheidung zu finden ist, mit wunderschönen Strukturen.
Wie spüren Sie Ihre Sujets auf?
Jedem Projekt geht eine intensive Recherche voraus, oft arbeite ich eng mit Fachleuten aus der Wissenschaft zusammen. Am Anfang steht immer die Faszination für etwas, die mich nicht mehr loslässt – wie bei den Schmetterlingseiern. Im Forschungsbericht der Krebsliga und der Krebsforschung Schweiz sind Eier des Kohlweisslings zu sehen, die wie ausserirdische Bauwerke anmuten und mit einem komplexen Belüftungssystem ausgestattet sind, um die embryonalen Raupen mit Sauerstoff zu versorgen.
Auch Krebszellen finden sich in Ihren Serien.
Mit diesen Aufnahmen kann ich Einblick in sehr komplexe Themen geben, die die Forschung derzeit beschäftigen. Sie helfen, das Interesse für ein Projekt zu wecken oder Resultate zu verdeutlichen. Wie im Fall von Prof. Nicola Aceto, Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der Krebsliga und Krebsforschung Schweiz, dessen neuste Ergebnisse darauf hindeuten, dass Brustkrebs-Metastasen vor allem in der Nacht aktiv sind. Das habe ich mit einem Bild veranschaulicht, das solche zirkulierenden Tumorzellen vor dunklem Hintergrund zeigt – es wirkt wie eine Art Nachtaufnahme.
Wie viele Stunden Arbeit stecken in einem Micronaut-Bild?
Der zeitliche Aufwand für ein einziges Bild beläuft sich durchschnittlich auf einen Monat. An Serien arbeite ich teilweise über viele Jahre hinweg.
Sind Ihre Bilder eher der Wissenschaft oder der Kunst zuzuordnen?
Es ist ein Sowohl-als-auch. Als forschender Künstler bzw. kunstaffiner Forscher arbeite ich mit einem Gerät, das primär wissenschaftlichen Zwecken dient. Ziel ist es, Bilder zu kreieren, die hohen ästhetischen Ansprüchen genügen. Von aussen wird mein Schaffen unterschiedlich gesehen: Für Forschende handelt es sich eher um Kunst, vermutlich wegen den später hinzugefügten Farben. Galeristinnen und Galeristen ordnen die Micronaut-Bilder jedoch eher der Wissenschaft zu, weil das REM im Spiel ist und der Prozess hin zum finalen Bild dem eines Forschers ähnelt.
Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich im Moment?
Derzeit ziehen mich Gewürze in den Bann. Ihre Strukturen sind unglaublich schön. Die Blattoberflächen von Basilikum und Lavendel haben unter dem Elektronenmikroskop etwas Surreales. Das möchte ich den Menschen zeigen.
Text: Tanja Aebli