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«Dass Werbung wirkt, weiss auch die Tabakindustrie»

Die meisten Personen, die rauchen, haben als Minderjährige damit angefangen, sagt Reto Auer vom Berner Institut für Hausarztmedizin. Als Gesellschaft sollten wir jungen Menschen ein gesundes Umfeld bieten – und nicht zulassen, dass sich die Tabakindustrie gezielt an sie richtet.

Prof. Dr. med. Reto Auer

Reto Auer, die Initiative «Kinder ohne Tabak» will die Werbung für Tabakprodukte einschränken, so dass sie keine Kinder und Jugendliche erreicht. Wie sinnvoll sind Werbeeinschränkungen aus Sicht der Wissenschaft?
Sehr sinnvoll. Dass Werbung wirkt, ist wissenschaftlich klar belegt. Das weiss auch die Tabakindustrie, denn ansonsten würde sie sich nicht so vehement gegen Einschränkungen in der Werbung wehren. Vor 100 Jahren hat praktisch niemand geraucht, doch dann stieg – nicht zuletzt auch wegen der Werbung – der Tabakkonsum steil an und erreichte in den 1950er-Jahren einen weltweiten Höhepunkt. Erst als die Werbung für Zigaretten im Fernsehen verboten wurde, begann der Tabakkonsum zu sinken. Heute wird deutlich weniger geraucht als noch vor 70 Jahren. Und fast überall auf der Welt gehen die Zahlen beim Rauchen weiterhin zurück. Doch leider gehört die Schweiz zu den Ausnahmen, denn hier bewegen sich die Zahlen seit mehr als 10 Jahren kaum mehr.

Woran liegt das?
Wenn Sie in Australien oder Irland in einen Kiosk gehen, sehen Sie keine Tabakprodukte, die dürfen von Gesetzes wegen nicht in der Verkaufsfläche ausgestellt werden. Viele andere Länder haben farblose Zigarettenschachteln, das so genannte Plain Packaging, eingeführt und die Preise für Zigaretten stark verteuert. Das sind nur einige der erwiesenermassen erfolgreichen Massnahmen, die in der Schweiz ausgeblieben sind. Hier gilt lediglich das Verkaufsverbot an Jugendliche. Das tut der Industrie nicht weh, denn es kann sehr einfach umgangen werden, wenn die etwas Älteren für ihre fünfzehnjährigen Kolleginnen und Kollegen einkaufen gehen. Auffallend ist jedoch, dass sich die Werbung oft ganz gezielt an junge Menschen richtet, also an Personen, die das Produkt gar nicht erwerben dürfen. Wieso ist das so? Weil die Tabakindustrie neue Kundinnen und Kunden an sich binden will.

Sie denken, das Zielpublikum der Tabakwerbung besteht vor allem aus jungen Leuten?
Ja. Eine Untersuchung aus Lausanne hat gezeigt, dass Jugendliche an einem einzigen Abend im Ausgang ungefähr 30 Mal Tabakwerbung begegnen. Das merken wir Erwachsene gar nicht, denn die meisten von uns gehen nur selten aus und besuchen dabei auch andere Orte. Ein weiteres Beispiel: Wieso stellen Tankstellen-Shops die Zigarettenwerbung ausgerechnet auf der Augenhöhe von Zehnjährigen aus, gleich neben den Süssigkeiten? Wir können nicht von den Kindern verlangen, dass sie ihre Augen schliessen. Doch gleichzeitig suggeriert diese Präsenz, dass Tabak normal ist und zu unserer Gesellschaft gehört.

Ihr Urteil über die Tabakindustrie fällt vernichtend aus.
Ja, ich halte mich an das Motto «hate the smoke, love the smokers». Ich bin gegen die Tabakindustrie und das schädliche Geschäft, das sie betreibt. Aber wir dürfen unsere Ablehnung nicht gegen Rauchende richten. Das sind Personen mit einer Suchterkrankung. Die meisten, 60 bis 80 Prozent von ihnen, haben als Minderjährige angefangen zu rauchen. Der Zigarettenkonsum ist eine durch Werbung übertragene Kinderkrankheit. Und es ist sehr schwer, wieder damit aufzuhören. Im Schnitt braucht es vier bis fünf Anläufe, bis man davon wegkommt. Dabei zeigen sich die Konsequenzen des Konsums meist sehr viel später – und enden oft in schlimmen Familiengeschichten. Denn wenn die Mutter oder der Vater knapp über 50-jährig an einem tabakbedingten Herzinfarkt oder Lungenleiden stirbt, müssen die Kinder mit nur noch einem Elternteil auskommen. Das Rauchen verursacht riesige soziale Schäden, doch aus Sicht der Tabakindustrie sind Zigaretten ein perfektes Produkt!

Wie meinen Sie das?
Nikotin ist eine Substanz, die extrem süchtig macht, weil sie im Körper innerhalb von ein bis zwei Stunden abgebaut wird. Zigaretten verschaffen einen so genannten Nikotin-Kick. Doch wenn dann der Nikotinspiegel im Blut bald wieder abfällt, kommt der Drang auf, noch eine Zigarette zu rauchen. In Grossbritannien kostet ein Pack 15 Franken, die Leute bezahlen auch diesen Preis, weil sie nicht anders können.

Wie schädlich sind Zigaretten für die Gesundheit?
Zigaretten sind ein sehr toxisches Produkt. Nicht unbedingt wegen des Nikotins, das süchtig macht, sondern auch wegen des krebserregenden Teers und hunderten von anderen gefährlichen Stoffen, die im Rauch von Zigaretten enthalten sind. Von 1000 Leuten, die täglich rauchen, sterben 500 frühzeitig daran. Die meisten sterben an Herzinfarkt oder einer chronischen Lungenentzündung, etwas weniger an Lungenkrebs und weiteren Tumorerkrankungen.

Sie nennen die Tabakindustrie eine sehr seltsame Industrie.
Ja, stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Sie einen Joghurt verkaufen, der jeden zweiten umbringt. Ihr Produkt würde sofort aus dem Handel genommen. Oder ein Medikament, das zehn Prozent der Leute tötet: Das würde gar nicht erst zugelassen. Bei der Initiative «Kinder ohne Tabak» geht es nicht darum, den Verkauf von Zigaretten zu verbieten. Das funktioniert nicht – und würde zum Aufkommen eines Schwarzmarkts führen. Das heisst aber nicht, dass wir als Gesellschaft zulassen müssen, wie die Industrie bei jungen und noch sich entwickelnden Menschen für ihr tödliches Produkt wirbt. Das muss aufhören. Als Erwachsene haben wir eine Verantwortung, den Kindern ein Aufwachsen in einer Umgebung zu ermöglichen, die ihrer Gesundheit förderlich ist.
 

Prof. Dr. med. Reto Auer

Reto Auer hat an den Universitäten Neuenburg, Lausanne und Humboldt zu Berlin Humanmedizin studiert und ist seit 2016 als Hausarzt bei einer Gemeinschaftspraxis sowie als Leiter Bereich Substanzkonsum am Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) der Universität Bern tätig. Aktuell führt er mit seinem Team unter anderem eine grosse randomisierte Studie durch, um zu untersuchen, wie gut sich Nikotinverdampfer (so genannte E-Zigaretten) als Hilfsmittel zur Rauchentwöhnung eignen. Die Studie wird auch von der Stiftung Krebsforschung Schweiz gefördert.