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Entdeckung eines neuen Angriffspunkts

Zuerst haben Laia Simó Riudalbas und Didier Trono herausgefunden, dass ein bisher übersehenes Gen im menschlichen Erbgut an der Ausbreitung von Darmkrebszellen beteiligt ist. Dann machten sie sich beharrlich auf die Suche nach Wirkstoffen – und wurden fündig.

Didier Trono & Laia Simo Riudalbas

Eigentlich war die Wissenschaft davon überzeugt, dass es sich beim Abschnitt auf dem Chromosom 8 mit dem unmöglichen Namen POU5F1B um ein sinnloses Überbleibsel einer genetischen Verdoppelung handle, die vor Urzeiten entstanden war. Also um ein Erbgutschnipsel ohne jegliche Funktion, oder: «um ein totes Pseudogen» in den Worten von Didier Trono, Leiter des Labors für Virologie und Genetik an der Ecole Polytechnique Fédérale in Lausanne, Doch dann entdeckte Laia Simó Riudalbas aus seiner Forschungsgruppe, dass sich die Sache eigentlich umgekehrt verhält: Das Gen, auf das sie in ihren von der Stiftung Krebsforschung Schweiz geförderten Arbeiten gestossen ist, ist sehr wohl aktiv. Und weil es nur in Primaten zu finden ist, ist es höchstens 15 Millionen Jahre alt, aus evolutionsgeschichtlicher Sicht gesehen also ziemlich jung.

 

Wenn Zellen dank Mikrofingern Metastasen bilden

Die menschliche Version des POU5F1B-Gens unterscheidet sich nur in wenigen Details von der Schimpansen- und der Gorillaversion. Allerdings führen genau diese Details dazu, dass das Protein, das vom menschlichen POU5F1B-Gen kodiert wird, sich nicht im Zellkern aufhält, sondern an die Zelloberfläche wandert. Dort lagert sich das POU5F1B-Protein mit anderen Proteinen zu einem Komplex zusammen. Simó Riudalbas vergleicht diesen Komplex mit «Mikrofingern», die «die Greifeigenschaften der Zelle verändern». Wie sie in ihren Versuchen herausgefunden hat, erlaubt der Proteinkomplex den Krebszellen, sich an den Fasern im Gewebe auszurichten – und aus dem Zellverbund des Primärtumors auszubrechen.

In anderen Worten: Offenbar erleichtert das POU5F1B-Protein die Bildung von Ablegern, sogenannten Metastasen. Deshalb sind Krebszellen mit diesem Protein besonders aggressiv und schwieriger zu bekämpfen. Weil das POU5F1B-Protein der Schimpansen und der Gorillas im Zellkern bleibt, gelangt es nicht an die Oberfläche – und begünstigt auch keine Metastasen. Das macht offenbar nur die menschliche Variante. Die Forschenden sprechen deshalb «vom bisher ersten auf den Menschen beschränkte Onkogen», das sie gefunden haben. Trono umschreibt das Gen mit «einer neuen Figur auf dem Schachbrett», die man im Tiermodell unmöglich hätte entdecken können – und die man nun gegen Krebs ins Spiel bringen könne.

 

6000 verschiedene Substanzen getestet

Auf das neue Onkogen gestossen ist Simó Riudalbas, als sie einen Datensatz zur Genaktivität durchforstete, den Forschende aus Dänemark anhand von Gewebeproben von 301 Patientinnen und Patienten mit Darmkrebs erstellt hatten. Sie hat in diesem Datensatz nach Genen gesucht, die in gesunden Zellen nur selten aktiv, in Krebszellen aber angeschaltet sind. «Das POU5F1B-Gen kommt nur in vier Prozent der normalen Dickdarmzellen zum Zug, ist jedoch in fast zwei Dritteln der Dickdarmkrebs-Proben aktiv», sagt Simó Riudalbas. «Und sogar in drei Vierteln aller untersuchten Metastasen.»

Als Nächstes hat die Wissenschaftlerin herausgefunden, dass das Onkogen nicht nur an der Ausbreitung von Darmkrebs beteiligt ist, sondern oft auch in anderen Tumoren – etwa im Magen und in der Speiseröhre, in der Prostata, in der Brust oder in den Lungen – aktiv ist. Zu untersuchen gäbe es also mehr als genug. Doch aus Kapazitätsgründen hat Simó Riudalbas ihre Analysen vorerst auf den Darmkrebs beschränkt. Um nach Wirkstoffen Ausschau zu halten, die das POU5F1B-Protein angreifen und ausschalten, setzte sie ihre Zellkulturen im Labor fast 6000 verschiedenen Substanzen aus.

«Ich hielt das Vorhaben für aussichtslos und habe ihr nach fünf oder sechs Monaten dringend geraten, die Suche abzubrechen», erinnert sich Trono. Doch ohne ihrem Chef davon zu berichten, machte Simó Riudalbas trotzdem weiter, bis sie nach mehr als einem Jahr endlich fündig wurde. Sie kann sich noch genau an den Moment erinnern: «Ich begann zu schwitzen und am ganzen Körper zu zittern.»

 

Unerwartete und ungewöhnliche Erkenntnisse

Als sie den Versuch wiederholte, stiess sie nochmals auf das gleiche Resultat: Sie hatte tatsächlich drei verschiedene Wirkstoffkandidaten gefunden, die sich zwar nicht direkt gegen das Zielprotein richten, sondern andere Proteine daran hindern, das POU5F1B-Protein zu stabilisieren. Wenn es rascher zerfällt, gelingt es dem POU5F1B-Protein offenbar nicht mehr, die anderen Beteiligten zusammenzutrommeln, um einen «Mikrofinger-Komplex» zu bilden, vermuten die Forschenden.

Unterdessen haben Trono und Simó Riudalbas einen Antrag für ein Nachfolgeprojekt eingereicht, der kürzlich bewilligt worden ist. Sie wollen ihre Arbeiten fortführen, um einerseits POU5F1B als prognostischen Biomarker einzuführen. «Das könnte es der Ärzteschaft erlauben, bisher übersehene Fälle von aggressivem Darmkrebs zu erkennen und entsprechend zu behandeln», sagt Simó Riudalbas. Andererseits will sie auch die Untersuchungen zur möglichen Behandlung von aggressiven Tumoren mit dem POU5F1B-Protein vertiefen, um damit «hoffentlich den Weg für klinische Studien zu ebnen». Für Trono hat sich gezeigt, dass «die unerwarteten und ungewöhnlichen Erkenntnisse uns in eine komplett neue Richtung geführt haben». Und er fügt hinzu: «Dass wir sie nun weiterverfolgen können, ist alles andere als selbstverständlich. Wir sind der Stiftung Krebsforschung Schweiz und ihren Spenderinnen und Spendern für die Unterstützung sehr dankbar.»

Projekt-Nummer: KFS-4968-02-202