Krebsforschung SchweizUnser EngagementWir unterstützen ForschendeBeispielhafte wissenschaftliche VorhabenEinen bösen Faktor in ein hilfreiches Signal verwandeln

Einen bösen Faktor in ein hilfreiches Signal verwandeln

Schon heute werden Patientinnen und Patienten mit Multiplem Myelom mit gentechnisch veränderten Immunzellen behandelt. Doch die Wirkung hält leider oft nur kurze Zeit an. Nun haben Forschende in Lausanne ihre Idee, wie die Krebszellen besser und längerfristig kontrolliert werden können, erfolgreich getestet.

Caroline Arber und ihr Mitarbeiter Jan Rath entwickeln eine neue Immuntherapie.

Sie haben einen komplizierten Namen und sind auch sonst in vielerlei Hinsicht speziell: Neuroendokrine Tumore (oder kurz NET) ähneln in ihrem Aufbau den Nervenzellen und schütten Botenstoffe oder Hormone aus. NET sind selten, sie können an verschiedenen Orten im Körper entstehen, aber wachsen nur langsam und verursachen deshalb in der Regel während langer Zeit keine Beschwerden.

Entdeckt werden sie oft als Zufallsbefunde, etwa nach einer Operation eines entzündeten Blinddarms, wenn sich die Fachleute im Pathologielabor das entfernte Gewebe genau anschauen. Oft ist der zufällig entdeckte Tumor im Blinddarm klein und hat einen Durchmesser von weniger als einem Zentimeter. Gemäss den internationalen fachärztlichen Richtlinien muss dann nichts Weiteres unternommen werden, weil der Tumor schon in einem frühen Entwicklungsstadium herausoperiert worden ist.

 

Tumoren im Zwischenbereich

«Auch bei grossen Tumoren des Blinddarms mit mehr als zwei Zentimeter Durchmesser ist der Fall klar», sagt Reto Kaderli, Leitender Arzt an der Universitätsklinik für Viszerale Chirurgie und Medizin des Inselspitals. Dann ist das Risiko erhöht, dass er bereits Ableger – so genannte Metastasen – gestreut hat. Deshalb empfehlen die Richtlinien eine zweite Operation, um den rechtsseitigen Teil des Dickdarms, der an den befallenen Blinddarm angrenzt, zu entfernen.

Und dann gibt es die Tumoren im Zwischenbereich, die im Durchmesser zwischen einem und zwei Zentimeter messen. Weil die Erfahrungen gemischt sind, tun sich die Fachleute schwer beim Entscheid, ob sie einen Teil des Dickdarms entfernen sollen. Denn der Eingriff ist schwerwiegend und führt bei einem Fünftel der Patientinnen und Patienten zu Komplikationen.

Zwar sind schwere Komplikationen wie etwa Darmverletzungen selten. Häufiger sind hingegen Wundinfektionen oder auch Darmträgheit. «Aber auch diese weniger schweren Komplikationen sind unangenehm – und oft mit einem verlängerten Spitalaufenthalt verbunden», erklärt Kaderli. «Das wollen wir vermeiden, umso mehr, als wir es hier vorwiegend mit jüngeren Patientinnen und Patienten zu tun haben.» Das Durchschnittsalter der Betroffenen beträgt nur 36 Jahre, viele haben also noch ein langes Leben vor sich.

 

Vergleichbare Überlebensraten

Kaderli und sein Team haben im Rahmen eines von der Stiftung Krebsforschung Schweiz geförderten Projekts die Gewebeproben und Krankheitsgeschichten von 278 Patientinnen und Patienten aus ganz Europa gesammelt. Bei allen wurde im Zeitraum zwischen 2000 und 2010 der Blinddarm entfernt – und in der Folge ein neuroendokriner Tumor in der strittigen Grösse aufgefunden.

Bei 115 Patientinnen und Patienten entschied sich die behandelnde Ärzteschaft für die Entfernung des rechtsseitigen Dickdarms. Die anderen 163 Patientinnen und Patienten wurden hingegen nicht nochmals operiert. Wie die Forschenden um Kaderli in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet Oncology berichten, sind die Überlebensraten beider Gruppen vergleichbar. «Das zeigt, dass die Entfernung des rechtsseitigen Dickdarms nicht notwendig ist», sagt Kaderli.

Mehr noch: Es gab keine neuen Metastasen und keinen einzigen tumorbedingten Todesfall in der Studie. Dabei hatten die Forschenden um Kaderli in 20 Prozent der Gewebeproben des Dickdarms Lymphknotenmetastasen vorgefunden. «Wir gehen davon aus, dass auch bei einem vergleichbaren Anteil der Patientinnen und Patienten ohne zweite Operation Lymphknoten befallen sind», sagt Kaderli. «Doch offenbar sind diese Metastasen klinisch irrelevant.»

 

Bruch mit einem onkologischen Dogma

Wie bitte? Metastasen, die bei anderen Krebsarten für 90 Prozent der Sterblichkeit verantwortlich sind, sollen hier klinisch irrelevant sein? «Ja, wir brechen mit einem onkologischen Dogma», antwortet Kaderli. «Wir sagen: Es ist besser, das Tumorgewebe im Körper drin zu lassen als unnötig zu operieren. Die Lymphknoten bleiben klein und machen keine Beschwerden.»

Dass es ungefährliche Ableger in den Lymphknoten gebe, kenne man bereits von bestimmten, kleinen Tumoren an der Schilddrüse. In diesen speziellen Fällen habe man damit begonnen, nur das befallene Drüsengewebe zu entfernen – und nicht noch die angrenzenden Lymphknoten. «Bei der Schilddrüse ist das akzeptiert», sagt Kaderli.

Er und sein Team haben die Resultate schon an Fachkongressen vorgestellt. Dabei hat Kaderli auch mit den Personen gesprochen, die aktuell an der nächsten Version der Leitlinien zur Behandlung neuroendokriner Tumore arbeiten. Er ist zuversichtlich, dass seine Erkenntnisse einfliessen. Und dass zukünftig weniger operiert wird – und mehr junge Betroffene die rechte Hälfte ihres Dickdarms und damit gleichzeitig ihre Lebensqualität behalten.

 

Erforschung von seltenen Krebsarten: eine Herausforderung

«Wir untersuchen eine seltene Tumorart. Um eine gültige Aussage machen zu können, muss man die Daten europaweit sammeln – und deshalb relativ viel Aufwand betreiben», sagt Reto Kaderli. Doch die internationale Zusammenarbeit hat sich gelohnt, denn dank ihr konnten die Forschenden wichtige Entscheide in der Klinik anzweifeln – und dann optimieren. «In unserem Projekt geht es um eine einfache Fragestellung, aber die Antwort hat eine grosse Tragweite, vor allem für die Betroffenen.»