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Ein gutes Selbstwertgefühl am Lebensende

Von der Krebsforschung Schweiz unterstützte Forschende haben am Universitätsspital Genf einen Ansatz erprobt, um existenzielle Ängste von Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung zu lindern. Die Corona-Pandemie hat das Unterfangen erheblich erschwert.

Gora Da Rocha (links) und Sophie Pautex am Bett einer Patientin

Menschen mit Krebs im fortgeschrittenen Stadium müssen mit anhaltenden körperlichen und psychischen Belastungen umgehen. Der Krankheitsverlauf wirft aber oft auch existenzielle Fragen auf. «Bisher konzentrierte sich die Pflege vor allem auf die Bewältigung von krankheitsbedingten körperlichen Beschwerden», sagt Gora Da Rocha. Die Pflegewissenschaftlerin hat zusammen mit der Palliativmedizinerin Sophie Pautex einen Leitfaden namens «Revie ⊕» entwickelt. Er bietet Pflegefachpersonen eine Orientierung, um in Gesprächen mit Krebsbetroffenen am Lebensende verstärkt auch die existenziellen Ängste und Sorgen angehen zu können (siehe Kasten).

Diesen Leitfaden haben Da Rocha und Pautex in ihrem kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekt getestet. Sie wollten in erster Linie wissen, ob «Revie ⊕» das Selbstwertgefühl und die Lebenszufriedenheit der Patientinnen und Patienten stärken kann. Tatsächlich wiesen die Resultate ihrer Studie in diese Richtung, erzählt Da Rocha. Die mit verschiedenen Fragebögen ermittelten Ergebnisse auf der Selbstwert- oder Lebenszufriedenheitsskala waren nach den Gesprächen allerdings nur geringfügig besser als vor den Gesprächen. «Die Unterschiede liegen unterhalb der Schwelle für statistische Signifikanz», sagt Da Rocha.

«Bei der Pflege von Krebsbetroffenen am Lebensende stand bisher vor allem die Bewältigung von körperlichen Beschwerden im Vordergrund. Wir zeigen auf, wie sich zudem auch existenzielle Sorgen mildern lassen.»

Beziehungen vertiefen

Dass die Resultate nicht klarer ausgefallen sind, sei auf mindestens zwei Gründe zurückzuführen, argumentieren die beiden Forscherinnen. Erstens hatten alle Teilnehmenden schon zu Beginn der Studie ein hohes Selbstwertgefühl, das lässt wenig Raum für Verschiebungen nach oben. «Vielleicht hatten Menschen mit einem geringeren Selbstwertgefühl weniger Interesse, an unserer Studie teilzunehmen», sagt Da Rocha. Und zweitens: «Unser psychosoziales Forschungsprojekt wurde leider stark von Covid-19 beeinträchtigt», sagt Pautex. Die Studie sei im Jahr 2019 sehr gut angelaufen, musste dann aber im Frühling 2020 während des Lockdowns einen mehrmonatigen Unterbruch hinnehmen.

Die pandemiebedingte Mehrbelastung des Pflegepersonals trug dazu bei, dass die Weiterführung der Studie unter erschwerten Umständen erfolgte – und schliesslich nur 71 (statt wie vorgesehen 102) Patientinnen und Patienten am Versuch teilnehmen konnten. Doch Pautex und Da Rocha finden es ermutigend, dass ihre Studie in einer anderen Hinsicht ein Erfolg war: Die für die Studie eigens geschulten Pflegefachpersonen gaben an, dass sich die Beziehungen zu den Kranken dank dem «Revie ⊕»-Leitfaden vertieften.
 

Projekte ermöglichen, die sehr nah am echten Leben sind

«Dass sie sich selbst als «Reviettes» bezeichneten, zeigt, wie sehr sie sich für die Studie engagierten», schreiben Da Rocha und Gora im Abschlussbericht ihres Projekts. Die beiden Forscherinnen möchten nun als Nächstes den Leitfaden in den pflegerischen Alltag der palliativmedizinischen Betreuung am Universitätsspital Genf überführen. «Wir arbeiten hierfür eng mit der Abteilung für Onkologie zusammen», sagt Pautex.

Da Rocha und Pautex betonen, dass sie für die Unterstützung, die sie von den Spenderinnen und Spendern erhalten haben, sehr dankbar sind. Dass auch Forschungsprojekte wie das ihre unterstützt würden, sei nicht selbstverständlich. Dazu braucht es Organisationen wie die Krebsliga Schweiz und die Krebsforschung Schweiz, die eine sehr breite Vielfalt von Projekten förderten, meint Pautex. Doch es lohne sich, den Fokus in der Krebsforschung auszuweiten. «Es geht eben nicht nur darum, die Wirkung neuer Medikamente zu testen, sondern auch Projekte zu ermöglichen, die komplexe Interventionen prüfen – und sehr nah am echten Leben sind», sagt Pautex.
 

Projekt-Nummer: KFS-4390-02-2018

Rückblick mit Fokus auf die individuellen Stärken und Ressourcen

«Revie ⊕» leitet Pflegefachpersonen an, in mehreren Gesprächen mit Patientinnen und Patienten einen Rückblick auf das Leben zu werfen, bei dem nicht die durch die Krankheit verursachten Probleme und Schwierigkeiten, sondern die individuellen Ressourcen und Stärken der erkrankten Person im Vordergrund stehen. So geht es in den Gesprächen zwischen den Betroffenen und den Pflegefachpersonen explizit auch um positive Veränderungen, die die Krankheit ausgelöst hat, etwa einer grösseren Wertschätzung für das Leben oder einem bewussteren Wahrnehmen der eigenen Endlichkeit. Zur Sprache kommen auch Ereignisse im Leben der kranken Person, auf die sie besonders stolz ist. Basierend auf all diesen Informationen entwirft die Pflegefachperson dann ein sehr persönliches Heft, das die Betroffenen auf Wunsch verändern und ergänzen. Am Schluss steht den Studienteilnehmenden eine liebevoll gestaltete Broschüre zur Verfügung, die ihnen als eine Art Vermächtnis hilft, ihren Angehörigen wichtige Botschaften mitzuteilen – und in Frieden Abschied zu nehmen.