Krebsforschung SchweizUnser EngagementWir unterstützen ForschendeBeispielhafte wissenschaftliche VorhabenJe mehr Bewegung, desto weniger Nebenwirkungen

Je mehr Bewegung, desto weniger Nebenwirkungen

Chemotherapeutika können das Herz schädigen. Nun haben Forschende erstmals beim Menschen nachgewiesen, dass es durch körperliche Aktivität geschützt werden kann.

Matthias Wilhelm und sein Team am Zentrum für Rehabilitation und Sportmedizin des Inselspitals.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Medizin oft machtlos gegen Krebserkrankungen. Jede Möglichkeit, gegen die Krebszellen vorzugehen, war willkommen. Dabei war das Bewusstsein für allfällige Nebenwirkungen oder Langzeitschäden der Behandlung war erst noch am Enstehen. «Das hat sich mittlerweilen geändert», sagt Matthias Wilhelm, ärztlicher Leiter des Zentrums für Rehabilitation und Sportmedizin am Inselspital in Bern. «Mit der steigenden Zahl von Krebsüberlebenden wird es zunehmend wichtig zu verstehen, wie sich schädliche Nebenwirkungen eindämmen oder sogar verhindern lassen.»

Als Herzspezialist interessieren ihn in erster Linie die Anthrazykline: Sie sind fester Bestandteil von Chemotherapien – etwa gegen Brustkrebs oder gegen Lymphome – und sehr effektiv im Kampf gegen Krebszellen. Leider führen sie aber in seltenen Fällen auch zu einer dauerhaften Schädigung des Herzmuskels. Zahlreiche Studien an Tiermodellen haben gezeigt, dass sich die Schäden am Herz-Kreislauf-System verringern, wenn sich Tiere während einer Chemotherapie ausreichend bewegen.
 

Corona macht Strich durch die Rechnung

«Bei Menschen aber war die bisherige Datenlage sehr dünn», sagt Wilhelm. Mit seinem Team hat er deshalb eine klinische Studie aufgesetzt, um zu untersuchen, wie sich ein Training während oder nach einer Chemotherapie auf das Herz auswirkt. «Wir hatten ursprünglich geplant, 102 Patientinnen und Patienten in unsere Studie einzuschliessen, aber die Corona-Pandemie hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht», führt Wilhelm aus. Im Zeitraum zwischen Mai 2019 und Juni 2022 konnten er und seine Kolleginnen und Kollegen am Inselspital und Lindenhofspital in Bern, am Bürgerspital in Solothurn und am Spital Thun 57 Patientinnen und Patienten für die Studie rekrutieren.

In ihrer Studie entschied der Zufall, ob jemand der Gruppe mit dem strukturierten Training während der Chemotherapie zugeteilt wurde, oder der Kontrollgruppe, die erst nach der Behandlung mit dem Training begann. Allen Patientinnen und Patienten aus beiden Gruppen wurde jedoch zu Beginn der Studie auch ein Schrittzähler ausgehändigt – mit dem Ratschlag, sich genügend zu bewegen. «Wir haben uns dabei an die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO gehalten: Gut ist, wenn man sich in der Woche 150 bis 300 Minuten mit mittlerer Intensität bewegt», sagt Wilhelm. Das entspricht ungefähr der Menge an körperlicher Aktivität, die man leistet, wenn man täglich 10 000 Schritte zurücklegt, mindestens die Hälfte davon in einem Tempo, bei dem man etwas schneller atmen muss.
 

Ambitionierte Studienteilnehmende

Bei der Auswertung der Daten hat sich dann gezeigt, dass auch die Personen in der Kontrollgruppe schon während ihrer Chemotherapie körperlich sehr aktiv waren. «Sie bewegten sich im Schnitt ebenso viel wie die Patientinnen und Patienten in der Gruppe mit dem strukturierten Training. Deswegen konnten wir keinen Unterschied zwischen den zwei Gruppen feststellen», sagt Wilhelm. Offenbar waren die Studienteilnehmenden so ambitioniert, dass das Tragen eines Schrittzählers und das Bewegungsziel von 10 000 Schritten pro Tag schon ausreichten, um sie für eine ausreichende Menge an Bewegung zu gewinnen. Gleichzeitig weist Wilhelm darauf hin, dass das gemeinsame Training in einem kardioonkologischen Rehabilitationsprogramm aufgrund des sozialen Austauschs und der festen Verpflichtung einigen Teilnehmenden geholfen habe, ihre Motivationsbarrieren zu überwinden.

Als die Forschenden um Wilhelm die Daten beider Gruppen zusammenfügten und so über alle Teilnehmenden hinweg das individuelle Ausmass an körperlicher Aktivität mit den Anzeichen für eine Schädigung des Herzmuskels verglichen, stiessen sie auf einen linearen Zusammenhang: «Je mehr Schritte eine Person getan hatte, desto besser blieb die Pumpfunktion des Herzens erhalten», sagt der Sportmediziner. «Wir konnten die dosisabhängige herzschützende Wirkung der Bewegung, die wir von den Tierversuchen her kannten, erstmals auch beim Menschen bestätigen.»
 

Genetisch auf Ausdauertraining programmiert

Es gelte, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass Patientinnen und Patienten wochenlang das Bett hüten müssten, weil sie sich aufgrund ihrer Erkrankung in erster Linie zu schonen hätten. «Der Mensch ist aus evolutionsbiologischer Perspektive als Jäger und Sammler genetisch auf moderates Ausdauertraining programmiert», meint Wilhelm. Deshalb sei es gesund, wenn das eigene Verhalten diesem genetischen Programm entspreche. «Daran ändert auch eine Krebserkrankung nichts», sagt Wilhelm. Krebsbetroffene sollten sich deshalb nicht zu lange schonen, sondern sich auch körperlich betätigen, soweit das für sie möglich sei. «So können sie von den zahlreichen gesundheitsfördernden Substanzen profitieren, die während der körperlichen Aktivität in den Muskeln entstehen.»

 

HSR-4360-11-2017